… voller Gnade und Wahrheit, Kapitel 1
Es war schon spät in einer regnerischen Nacht, als meine Frau Nanci und ich noch in der Stadt unterwegs waren. Da bemerkte Nanci plötzlich einen älteren Mann auf einem Parkplatz, der sich auf eine Krücke stützte und offensichtlich so seine Mühe hatte. Ich half ihm in sein Auto. Und da er ziemlich erschöpft war, fragte ich ihn, ob ich ihn nach Hause fahren könne.
Er lehnte ab, aber ich sagte ihm, dass wir ihm folgen würden, um zur Stelle zu sein, falls er doch noch unsere Hilfe benötigte. Als er die Parklücke, ziemlich unsicher fahrend, verließ, baten wir Gott darum, dass er die Straße nicht finden würde. Als er sich dann in einer schmalen Durchfahrt festgefahren hatte, wurde unser Gebet erhört. Ich öffnete seine Tür und bat ihn, sich auf den Beifahrersitz zu setzen, um ihn nach Hause fahren zu können, während Nanci uns in unserem Auto folgen würde.
Als ich gerade losfahren wollte, sprangen zwei Männer vor unser Auto, winkten mit ihren Armen und mit einem Handy. Einer von ihnen rief: »Meine Frau bekommt ein Kind, und ich muss ganz dringend nach Hause. Wäre es wohl möglich, dass Sie uns nach Hause fahren?«
»Nun«, sagte ich, »dies ist überhaupt nicht mein Auto, und der Mann, der neben mir sitzt, den kenne ich gar nicht.«
Eine ziemlich lahme Ausrede, finden Sie nicht auch? Ich bat Nanci, in das Auto des älteren Mannes einzusteigen und mir damit zu folgen, während ich die beiden Typen nach Hause bringen würde (wo auch immer das sein mochte). Nachdem ich sie abgesetzt hatte, sprang ich zurück in Georges Auto – inzwischen kannte ich nämlich seinen Namen –, um ihn nach Hause zu fahren (wo auch immer das sein mochte). Als wir sein Zuhause erreicht hatten, half ich ihm in sein Zimmer.
Ich fand heraus, dass George 28 Jahre als Professor der Politikwissenschaften an der Staatlichen Universität San Francisco tätig gewesen war. Mir war klar, dass die meisten Menschen aus Georges Umfeld bibelgläubige Christen nicht gerade zu ihrem Freundeskreis zählten! George fragte mich, warum wir ihm denn eigentlich geholfen hätten – worauf ich ihm sagte, dass wir Christen seien. Außerdem gab ich ihm mein Buch Der Himmel – Was uns dort wirklich erwartet. Ich betete, dass Gott sein Leben verändern würde, und hoffte, dass wir den Rest der Geschichte in der Ewigkeit erfahren würden.
Wie sich allerdings herausstellen sollte, brauchten wir gar nicht so lange zu warten.
Zwei Monate später erwachte nämlich meine Assistentin Kathy mitten in der Nacht mit einem seltsamen medizinischen Problem, das sie niemals zuvor gehabt hatte und seitdem auch nie wieder bekommen hat. Am nächsten Tag suchte sie ihren Arzt auf und hatte ein Exemplar des Buches Der Himmel – Was uns dort wirklich erwartet bei sich. Als der Arzt das Buch sah, sagte er: »Vor einigen Tagen hatte bereits ein anderer meiner Patienten dieses Buch bei sich – und sagte mir, er wünschte, er könne einmal mit dem Verfasser des Buches reden.«
Als Kathy zurück in unser Büro kam, hatte sie Georges Telefonnummer.
Ich rief ihn an und fragte ihn, ob es ihm recht sei, wenn ich ihn einmal besuchen würde. Er willigte ein. George war voller Fragen. Er wollte die Wahrheit über Jesus Christus wissen. Er konnte den Gedanken der Gnade, dass Gott tatsächlich bereit sein sollte, verdorbenen Menschen zu vergeben, einfach nicht fassen. Er sagte, dass klänge ihm alles »zu einfach«. Es folgte ein zweistündiges Gespräch. Und ich erlebte, wie Gottes Geist an George wirkte. Letzten ndes betete er zu Gott, bekannte Ihm seine Sünden und nahm das Geschenk Christi, das ewige Leben, an.
Wie hoch ist wohl die Wahrscheinlichkeit, dass all diese Ereignisse zusammentreffen?
Das ist vollkommen unwahrscheinlich – es handelte sich bei alledem ganz bestimmt um eine Reihe von göttlich gelenkten Umständen.
Ein bescheidener Gnadenakt von meiner Frau und mir bzw. zwei unbedeutende Handlungen, wenn man einmal die Fahrt zu der werdenden Mutter mitzählt, hinterließen irgendwie einen Eindruck bei George – und führten zudem dazu, dass er ein Buch in seine Hände bekam, das ihm die Wahrheit anbot.
Was George erlebte, womit er rang und was ihn letztlich zu Christus brachte, waren Gnade und Wahrheit.
Was verrät uns?
Einer meiner Freunde nahm einmal in einem kleinen Londoner Restaurant Platz und vertiefte sich in die Speisekarte.
»Was darf’s denn sein?«, fragte der Kellner.
Die rätselhaften Bezeichnungen der Gerichte studierend, meinte mein Freund: »Uhh …«
Der Kellner lächelte: »Oh, ein Yankee (ein Nordamerikaner)! Aus welchem Teil der Vereinigten Staaten kommen Sie denn?«
Wenn er auch kein einziges Wort gesagt hatte, so hatte er sich doch bereits verraten.
So war das auch im ersten Jahrhundert mit den Nachfolgern Christi: Man erkannte sie sofort. Was war es denn, was sie verriet? Es waren nicht ihre Gebäude. Sie besaßen keine.
Nicht ihre Programme. Die hatten sie nicht.
Auch nicht ihre politische Macht. Denn sie besaßen keine.
Es waren auch nicht ihre Hochglanz-Magazine, Fernsehsender, Autoaufkleber oder Medien-Berühmtheiten. Denn sie hatten nichts von alledem.
Was war es dann?
»Und mit großer Kraft legten die Apostel das Zeugnis von der Auferstehung des Herrn Jesus ab; und große Gnade war auf ihnen allen.« (Apg 4,33)
Sie gaben Zeugnis von der Wahrheit Christi und lebten aus Seiner Gnade. Wahrheit war die Nahrung, die sie zu sich nahmen, und die Botschaft, die sie weitergaben. Gnade war die Luft, die sie atmeten, und das Leben, das sie lebten.
Die Welt um sie herum hatte nie etwas Vergleichbares gesehen.
Und das gilt auch noch heute.
Die zwei Grundelemente
Die einzige »Gemeindewachstumsformel«, welche die frühe Gemeinde besaß, war der Leib der Wahrheit, der vom Blut der Gnade durchströmt wurde. Weil diese Menschen wie Jesus waren, zogen sie Tausende zu Ihm hin.
Was jedoch bedeutet »wie Jesus zu sein«? Wir könnten nun lange Listen mit all Seinen Charaktereigenschaften hervorholen. Doch je länger die Listen sind, desto weniger können wir in der Regel mit ihnen anfangen. (Ich kann nicht einmal mit drei Bällen jonglieren. Wie sollte ich es da mit Dutzenden können?)
Was jedoch, wenn man den Charakter Christi auf zwei Grundzüge reduzieren könnte?
Und genau das ist möglich:
»Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. … Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir haben Seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Einziggeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.« (Joh 1,1.14, Hervorhebung durch den Autor)
Jesus Christus ist voll von zwei Dingen: Gnade und Wahrheit.
Da steht nicht »voll von Geduld, Weisheit, Schönheit, Mitgefühl und Kreativität«. In der Aufzählung gibt es keine Kommas und nur ein Bindewort – Gnade und Wahrheit. Die Heilige Schrift fasst den Charakter Christi in einer Zwei-Punkte-Checkliste für Christusähnlichkeit zusammen.
Das Kind, das in einem Stall in Bethlehem geboren wurde, war niemand anders als der Schöpfer des Universums. Er schlug Sein Zelt auf dem einfachen Campingplatz unseres kleinen Planeten auf. Gottes Herrlichkeit wohnte nicht länger in einem Tempel aus Holz und Stein, sondern in Christus. Dieser war nun das Allerheiligste.
Als Er jedoch wieder hinaufstieg in die Weiten der blauen Himmel, da ließ Er Gottes Schechina-Herrlichkeit – jenes sichtbare Zeichen der Gegenwart Gottes – auf dieser Erde zurück. Und wir Christen wurden zu Seinen lebendigen Tempeln, zu dem neuen Allerheiligsten (l. Korinther 3,16-17; 6,19).
Alles, was die Menschen jener Zeit tun mussten, wenn sie wissen wollten, wie Gott wirklich ist, war, Jesus anzuschauen. In gleicher Weise sollten auch die Menschen von heute lediglich uns anschauen müssen, um zu erkennen, wie Jesus ist. Seien es nun unsere guten oder unsere schlechten Taten: Menschen werden einen Eindruck von Christus bekommen – aufgrund dessen, was sie an uns sehen. Wenn wir beim Gnaden-Test durchfallen, dann erweisen wir uns als nicht christusähnlich. Und auch wenn wir am Wahrheits-Test scheitern, besitzen wir keine Christusähnlichkeit. Wenn wir hingegen beide Prüfungen bestehen, dann entdecken die Menschen an uns eine Ähnlichkeit mit Jesus.
Eine nach Gnade und Wahrheit hungernde Welt braucht den echten Jesus, der voller Gnade und Wahrheit ist.
Was nun sieht diese hungrige Welt, wenn sie uns anschaut?
Von Gnade überrascht
Die jüdische Kultur des 1. Jahrhunderts verstand Wahrheit weitaus besser als Gnade. Deshalb wird auch in Johannes 1,14 die Gnade zuerst erwähnt, weil sie einfach überraschender war.
Als Jesus die Weltbühne betrat, konnten die Menschen nicht nur die Forderungen der Wahrheit hören, sondern sie hatten die personifizierte Wahrheit vor Augen. Da war nicht länger ein kurzzeitiges Aufflackern von Gnade, sondern die Gnade selbst.
»Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt!« (Joh 1,29).
Als Gott an Mose vorüberging, bezeichnete Er sich selbst als »reich an Gnade und Treue« (2. Mose 34,6). (Bei dem Wort, das dort mit Treue übersetzt wird, handelt es sich um die hebräische Entsprechung von Wahrheit.)
Gnade ist ein angenehmes, wohlklingendes Wort. Sie fasziniert. Sie zieht an. Sie drängt. Sie überwältigt. Doch Gnade überrascht auch. Es war, als ob Gott sagen wollte: »Von der Wahrheit habt ihr gehört. Sie wird an jedem Sabbat in den Synagogen gelehrt. Aber lasst Mich euch von der Gnade erzählen …«
Das Alte Testament lehrt die Furcht Gottes und stellt den Lesern die entsetzlichen Folgen vor Augen, die die Missachtung der Wahrheit mit sich bringt. Dort wird die Wahrheit als unbarmherzig dargestellt. Usa wurde allein für den Versuch, die Bundeslade mit seiner Hand festzuhalten, damit sie nicht vom Wagen herunterfiel, von Gott niedergestreckt, so dass er starb.
Sicherlich finden wir auch im Alten Testament Gnade – sogar reichlich davon –, sie wurde jedoch von der Wahrheit in den Schatten gestellt. Die Pharisäer, die selbst ernannten Hüter von Gottes Wahrheit, betonten niemals die Gnade.
Christi Zuhörer hatten im mosaischen Gesetz Wahreit gesehen, aber es war Christus, der sie den ersten freien Blick auf die Gnade werfen ließ.
Das Gesetz konnte lediglich Sünde offenbar machen. Jesus jedoch konnte diese hinwegnehmen.
Einige der heutigen Gemeinden halten an der Wahrheit fest, könnten jedoch eine starke Dosis Gnade gebrauchen.
Wieder andere Gemeinden reden in einem fort von Gnade, bräuchten jedoch eine starke Dosis Wahrheit.
Vor einiger Zeit lud ich eine lesbische Aktivistin ein, mit mir zu Mittag zu essen. Während der ersten Stunde schlug sie mit ihren Worten auf mich ein, indem sie mir von all den Christen, von denen sie schlecht behandelt worden war, erzählte. Sie schien steinhart zu sein. Ich hörte ihr zu, versuchte ihr, Gottes Gnade zu zeigen, und betete darum, sie möge den Jesus sehen, den sie so dringend brauchte. Sie wurde laut und fluchte so sehr, dass die anderen Menschen um uns herum uns anstarrten. Das nahm ich jedoch in Kauf. Schließlich ging Jesus Christus für diese Frau ans Kreuz – das Mindeste, das ich tun konnte, war doch wohl, ihr zuzuhören.
Plötzlich begann sie zu weinen, ja sogar zu schluchzen. Sie war am Boden zerstört. Ich streckte meine Hand aus über den Tisch und fasste sie bei ihrer Hand. In den folgenden zwei Stunden hörte ich mir ihre Geschichte an, hörte von ihrer Mutlosigkeit und von ihren Zweifeln, die sie bezüglich der Dinge hatte, für die sie kämpfte. Und ich – ich erzählte ihr von der Gnade Christi.
Nach vier Stunden verließen wir dann Seite an Seite jenes Restaurant. Bei unserem Gespräch fiel weder die Wahrheit auf Kosten der Gnade, noch die Gnade auf Kosten der Wahrheit unter den Tisch.
Ein Vogel braucht zum Fliegen nun einmal zwei Flügel. Mit nur einem Flügel kann er sich nicht zum Himmel emporheben. Und so fliegt auch das Evangelium mit zwei Flügeln: dem Flügel der Gnade und dem Flügel der Wahrheit. Nicht nur mit einem, sondern mit beiden.
Das Gleichgewicht halten
Der scheinbare Konflikt zwischen Gnade und Wahrheit besteht nicht aufgrund ihrer Unvereinbarkeit, sondern ist in unserem Unvermögen begründet, ihn aufzulösen. Gnade und Wahrheit sind voneinander abhängig. Wir sollten uns niemals mit der Wahrheit beschäftigen außer im Geist der Gnade. Und wir sollten uns niemals mit der Gnade beschäftigen außer im Geist der Wahrheit. Jesus war nicht 50 Prozent Gnade und 50 Prozent Wahrheit, sondern 100 Prozent Gnade und 100 Prozent Wahrheit.
An der Wahrheit ausgerichtete Christen lieben die Beschäftigung mit Gottes Wort und mit theologischen Fragen, sind jedoch gelegentlich schnell bei der Hand, wenn es ums Richten geht, und langsam, wenn es ums Vergeben geht. Sie sind stark in Bezug auf die Wahrheit und schwach im Hinblick auf die Gnade.
Christen, die sich hingegen an der Gnade ausrichten, lieben Vergebung und Freiheit, doch vernachlässigen zuweilen das Bibelstudium und bezeichnen moralische Regeln als »Gesetzlichkeit«. Sie sind stark in Bezug auf die Gnade und schwach im Hinblick auf die Wahrheit.
Unzählige Fehler, die im Eheleben, in der Erziehung, in der Gemeinde und in anderen Bereichen emacht werden, sind auf ein mangelndes Bemühen zurückzuführen, eine Ausgewogenheit zwischen Gnade und Wahrheit herzustellen. Manchmal vernachlässigen wir beides. Häufig ziehen wir das eine dem anderen vor.
In diesem Zusammenhang werde ich an Moses, unseren Dalmatiner, erinnert.
Immer, wenn sich ein Tennisball in seinem Maul befindet, liegt der andere auf dem Boden. Wenn er dann allerdings nach dem zweiten Ball schnappt, lässt er zuvor den ersten fallen. Große Hunde können zwei Bälle in ihr Maul bekommen. Doch Moses nicht. Es gelingt ihm lediglich für einen kurzen Augenblick, beide Bälle zugleich in seinem Maul zu behalten.
Denn dann springt zu seinem Kummer der eine oder der andere Ball erneut auf den Boden zurück.
In ähnlicher Weise scheint unsere verstandesmäßige Kapazität nicht groß genug zu sein, um gleichzeitig an Gnade und Wahrheit festzuhalten. Wir bemühen uns um den Gnadenball – nur um dann den Wahrheitsball wieder fallen zu lassen, um den nötigen Platz für den anderen zu schaffen. Und daher müssen wir, damit es uns gelingt, beides gleichzeitig festzuhalten, unseren allzu kleinen Verstand weiten.
Wir haben es hier nur mit einem scheinbaren Widerspruch zu tun. Gnade und Wahrheit sind nicht wirklich unvereinbar. Jesus schaltete nicht die Wahrheit ein und musste sie danach erst wieder ausschalten, um die Gnade einschalten zu können. Nein, in Jesus ist beides ohne Unterbrechung eingeschaltet. Und auch in uns sollte sowohl die Gnade als auch die Wahrheit zur selben Zeit aktiviert sein.
Was würde Jesus tun? Darauf gibt es immer wieder nur eine Antwort:
Er würde in Gnade und Wahrheit handeln.
Wahrheit ohne Gnade erzeugt eine selbstgerechte Gesetzlichkeit, welche die Gemeinde vergiftet und die Welt auf Abstand zu Christus hält.
Gnade ohne Wahrheit bewirkt eine moralische Gleichgültigkeit und verhindert, dass Menschen erkennen, dass sie Jesus Christus brauchen.
Versuche, das Evangelium durch eine Verkürzung der Wahrheit »weicher zu machen«, halten Menschen auf Distanz zu Jesus. Und auch alle Versuche, das Evangelium durch eine Verkürzung der Gnade »härter zu machen«, schaffen eine Kluft zwischen den Menschen und Jesus. Es reicht nicht aus, Gnade oder Wahrheit anzubieten.
Wir müssen beides tun.
Das soll das Thema dieses kleinen Buches sein.
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